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Zugreise ZarengoldWo die Reise niemals endet - mit dem Zarengold durch Sibirien Wir - mit dem Zug - nach Moskau. Der Schweizer Tourist bemüht sich redlich. Seit Minuten redet er nun in vermeintlichem Hochdeutsch auf den alten bärtigen Russen ein. Der sitzt in Kosaken-Uniform leise lächelnd auf einer Bank, trinkt Wodka und sagt - gar nichts. Warum auch? Das Geschäft läuft auch ohne Worte: Wer ihn fotografieren will, zahlt einen Dollar.... Alle wollen ihn fotografieren. Wir sind im Dorf 110. Die Ansammlung kleiner Holzhäuser liegt mitten in Sibirien. Am Baikalsee, an Kilometer 110 der Transsibirischen Eisenbahn. Daher hat das Dorf auch seinen Namen. Ein- , zweimal in der Woche hält hier ein Touristenzug, eine halbe Stunde lang. Dann steigen alle aus und fotografieren Ställe und Hütten, wo die Dorfbewohner getrockneten Fisch und eingelegte Gurken vorbereitet haben. Für wen die Begegnung unterhaltsamer ist? Schwer zu sagen. Seit einer halben Woche rütteln wir mit dem Zarengold auf der längsten Gleis-Trasse der Welt quer durch Asien und Europa. 9288 Kilometer liegen zwischen Moskau und Wladiwostok. Ein Russe würde sagen: sieben Tage und sechs Nächte, weil er Distanzen selten in Zahlen benennt. Auf der "Transsib" zu fahren, gilt als Abenteuer. Okay, vielleicht nicht, wenn man im Sonderzug fährt. Unserer heißt "Zarengold" und ist die Erfindung eines deutschen Studienrats, der die Idee hatte, auf der Transsib Russischunterricht zu verabreichen. Seit 1999 ließ er einen eigenen Zug rollen, der als bequemste Fahrmöglichkeit durch Russland gilt. Man sollte jedoch nicht unterschätzen, wie abenteuerlich eine Bahnreise mit 210 neugierigen Touristen sein kann. Im Zug hat sich nach wenigen Tagen eine befremdliche Intimität eingestellt. Die pensionierte Lehrerin von Wagen 12 zum Beispiel, die bei Tagesausflügen immer leicht pikiert dreinblickt. Sie hat ihre Hemmungen gänzlich über Bord geworfen und läuft, nur in Slip und Büstenhalter, durch die schmalen Gänge zur Dusche. Das ist durchaus pragmatisch, denn wer dort halb nackt eintrifft, spart Zeit. Und die ist nötig: Für die große Wäsche bleiben 20 Minuten, dann kommt der Nächste. Bis zu 90 Passagiere teilen sich eine Dusche, und jeder will mal ran. Mit Ausnahmen. Eine ist der grauhaarige Herr aus Waggon 13. Er hat schon am zweiten Tag beschlossen, sich nicht mehr zu waschen. Als er es erzählte, hat er gelächelt. Im Duschplan aber ist er dann auch nie mehr aufgetaucht. Eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn ist kein Luxus-Ausflug. Das gilt für den Touristen-Sonderzug und erst recht für die regulär verkehrenden Züge. Dort gibt es lediglich Zweier- , Vierer- und Großraumabteile, die Toiletten liegen am Anfang und Ende eines jeden Waggons. Wer muss, muss im Fahren: Kurz bevor der Zug in die Bahnhöfe einfährt, sperrt der Schaffner das stille Örtchen mit dem Vierkantschlüssel ab. Russlands Bahnhöfe sind sauber - und sie sollen es bleiben... Die WC-Regel gilt auch für uns Touristen. Doch wir haben bei der Frage nach dem Reisekomfort etwas mehr Auswahl. Die Kategorie "Bolschoi" ist ein rollendes Doppelzimmer mit eigenem Bad und eigenem WC. Sündhaft teuer und - wie einige Passagiere im Laufe der Reise verraten - auch nicht ganz ohne Abstriche zu genießen. "Das Wasser schwappt vom Bad ins Abteil", hat einer erzählt. Er hat sich trotzdem gefreut, dass er nicht sofort abends, wenn die Pläne ausgehängt werden, mit zig anderen Fahrgästen um die günstigste Duschzeit buhlen muss. Dann sind da die Waggons, die in der Ära Chruschtschow für Regierungsmitglieder gebaut wurden: zwei getrennte Abteile, ein gemeinsamer Waschraum mit Dusche. Auch hübsch. Auch teuer. Fast alle reisen deshalb, als wären sie mit der regulären Transsib unterwegs: in Zweier- und Viererabteilen. Die meisten "Zug-Zimmer" im Zarengold sind nur etwa zweieinhalb mal zwei Meter groß und die Wände dünn. Gestern kannte man den Österreicher von nebenan noch gar nicht, heute weiß man, wie sein Schnarchen klingt. Es ist Leben mit Minimalabstand. Am Tag dienen die 70 Zentimeter breiten Betten im Zarengold als Couch. Auf dem kleinen Tisch dazwischen zeichnet jeder mit der Zeit sein eigenes Stillleben: Wasser, Wodka, Obst, IPod, Wecker, Medikamente, Bücher... Was man eben braucht, wenn man die Welt erkundet. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Eisenbahn in Westeuropa und den USA schon ein beliebtes Verkehrsmittel, in Russland aber war davon kaum die Rede. Erst der Wunsch, den rohstoffreichen und strategisch wichtigen Fernen Osten zu erschließen, verhalf der Idee einer großen Bahnlinie durch Sibirien zur Realisierung. Danach ging alles recht schnell. Während im Jahr 1897 nur rund 600 000 Reisende mit der Transsib unterwegs waren, stieg ihre Zahl bis 1910 auf über drei Millionen. Bis heute ist die Eisenbahn eines der beliebtesten Verkehrsmittel in Russland. Bei uns an Bord ist sie eines der beliebtesten Gesprächsthemen. Viele sind mitgefahren, weil sie Experten sind. Bald sind viele Experten, weil sie mitgefahren sind. Der alte Eisenbahner aus Waggon 9 zum Beispiel. Immer wenn er den Unternehmer aus Waggon 11 trifft, sprechen die beiden über besondere Vorkommnisse. Zum Beispiel, dass Russlands Breitspur nur 89 Millimeter mehr hat, als die 1435 Millimeter breite Weltstandardspur. Der kleine Unterschied sollte feindliche Züge daran hindern, in die russischen Gleise zu einzufahren. Oder dass wir deshalb ständig die Loks wechseln, weil die nicht zum Zug, sondern den Eisenbahngesellschaften gehören. Neues Hoheitsgebiet, neue Lok. Schon wieder was gelernt. Wer selbst Zugchef spielen will, kann das auf der Transsib-Sonderreise. Ein Besuch beim Lokführer kostet fünf Euro. Ein bisschen teurer als der Lohn des Kosaken von Dorf 110. Dafür einen Tick spannender. Und eine Geschichte, die man noch jahrelang erzählen kann. Unsere Höchstgeschwindigkeit liegt bei 120 Stundenkilometer. Ein gutes Tempo um die Welt außerhalb des Abteils zu beobachten. Dabei gibt es eigentlich gar nicht viel zu sehen. Der Blick aus dem Fenster ist wie ein Samstagabend vor dem Fernseher: voller Wiederholungen. Sibirien, das heißt Birken, Stunde- , ach tagelang. Dazwischen kleine Dörfer, Bahnübergänge, Bahnhöfe. Zappen ist nicht, was aber keinen stört. Niemand würde das Programm wechseln, weil man normalerweise ja nur einmal im Leben mit der Transsib fährt. Und weil die sibirische Weite in Ihrer Eintönigkeit dann irgendwie doch faszinierend ist. Über 300 Nationalitäten leben in diesem Teil Russlands. Sibirien macht 56 Prozent des ganzen riesigen Landes aus. Der Name stammt aus dem Tatarischen und bedeutet "schlafende Erde". Was den Tag im Zarengold strukturiert, sind die Mahlzeiten. Die gibt´s morgens, mittags, abends, und immer gibt es reichlich. Wir kosten Borschtsch, eine Suppe aus roter Beete, Blinis, eine Art Eierkuchen - und natürlich Kaviar, zwei Sorten und einmal auch Wodka, fünf Sorten. Bei der Probe hat sich das sonst so einmütige Ehepaar aus Waggon 7 in die Wolle gekriegt. Er hat zu keinem der fünf Doppelten Nein gesagt, einen kleinen Nachschlag gefordert, und sich später auf dem Rückweg ins Abteil gewundert, dass sich der Zug diesmal etwas stärker nach rechts und links neigt als sonst. Dann hat er sich hingelegt und die nächsten vier Stunden Birken und Dörfer und Bahnstationen und Bahnübergänge bis zum Abendessen verschlafen. Das Küchenpersonal des Zarengold schnippelt, kocht und bäckt während der Reise in Mini-Kombüsen - mit maximalem Erfolg. Salat "Russische Schönheit", Fleischroulade nach Zarenart, Roastbeef mit kaukasischer Pflaumensoße. Unsere Speisekarte liest sich wie die des Zarenhofs. Am Ende der Reise wird jeder von uns einige Kilogramm zugelegt haben. Das entspricht ganz den russischen Vorstellungen: "Von dicken Menschen", sagt ein Sprichwort "braucht es viel". Eine charmante Redensart. Wir werden sie bemühen, wenn wir zu Hause auf der Waage stehen und der uncharmanten Wahrheit ins Gesicht blicken. Die Speisewaggons liegen in der Mitte des Zugs. Wie eine Karawane ziehen wir täglich dreimal durch die Gänge, vorbei an offenen Abteilen. Durch einen Waggon nach dem anderen, Tür auf, durchgehen, Tür zu, Tür auf, durchgehen, Tür zu. Schwerstarbeit, weil sich hier nicht wie im ICE jede Tür automatisch öffnet. Keiner will deshalb der Letzte in der Reihe sein - obwohl man als "Pförtner" einen Teil seiner Kalorien schon abtrainiert, bevor man sie überhaupt zu sich genommen hat. Hunderte von Händen greifen täglich an diese Zugtüren. Das ist nicht grade hygienisch. "Meine lieben Leute, nehmt feuchte Tücher", hat unsere Reiseleiterin Olga uns deshalb gleich am ersten Tag eingebläut und das "ch" schabte ein wenig an ihrem Gaumen. Olga ist eine lustige Frau, bei diesem Thema aber versteht sie keinen Spaß. Hände waschen vor dem Essen ist Pflicht. Deshalb stehen an jedem Tisch eine große Packung feuchter Tücher. Fast jeden Tag hält der Zug in einer der größeren Städte, die zwischen Wladiwostok und Moskau liegen. Khabarowsk, Irkutsk, Novosibirsk, Jektarinenburg, Kasan... Es sind junge, belebte, saubere Städte. Städte in denen überall Baukräne und Rohbauten stehen, in denen U-Bahnen gebaut werden, auch wenn sie oft nur drei Stationen haben. "Mein Land ist in Aufbruchstimmung. Wir waren so lange arm. Jetzt wollen wir leben, aufholen, uns präsentieren", sagt Olga. Nie spricht sie von "Russland", sondern immer nur von "meinem Land". Olga kommt aus Moskau, der teuersten Stadt Russlands, der Stadt der Superlative. Hier leben die reichsten Menschen. Hier siedeln sich die größten Firmen an. Hier entstehen die ehrgeizigsten Bauprojekte. Man kann in Moskau alles kaufen, was das Herz begehrt - wenn man Geld hat. Im mondänen Kaufhaus Gum am Roten Platz kostet das Prada-Tächschen gleich ein wenig mehr, als man in Paris oder London dafür hinlegen müsste. Einige wenige können es sich leisten: Russland steht weltweit an dritter Stelle der Länder mit den meisten Milliardären. Doch alles ist relativ. Der Durchschnittslohn liegt bei gerade mal 800 Euro. Und so bekommen die meisten nicht mehr vom Luxus ab als den sehnsüchtigen Blick durchs Schaufenster. St. Petersburg steht der russischen Hauptstadt an Prunk nicht im Geringsten nach. Auch wenn die klassische Route der Transsibirischen Eisenbahn in Moskau endet, die erste Bahnlinie Russlands führte 1837 von Peter in den kleinen Vorort Pawlovsk. Dort residierte die Zarenfamilie - in prunkvollen, goldgetäfelten Schlössern. Um uns Russland-Besucher daran zu erinnern, heißt unser Sonderzug "Zarengold". Alles, was in Russland größer, schöner oder merkwürdiger ist, heißt Zar oder Iwan. Am letzten Abend im Sonderzug breitet sich eine seltsame Stimmung aus. Die pensionierte Lehrerin von Waggon 12 hat bereits drei Gläser Wodka getrunken, doppelte, und singt jetzt begeistert Dschinghis Khans alten Schlager "Moskau" mit, der über Bordfunk durch die Speisewagen schallt. Der grauhaarige Herr aus Waggon 13 schwärmt seit Minuten in höchsten Tönen von der Dusche, die ihn in seinem Moskauer Hotel erwarten wird. Mit dem schnarchenden Österreicher vom Nebenabteil haben wir uns angefreundet, irgendwo zwischen Asien und Europa. Als wir die Grenze zwischen beiden Kontinenten überquerten, haben wir gemeinsam gefeiert. So ist der Mensch: Er reist Tausende von Kilometern, nur um zu jubilieren, wenn er wieder in vertraute Gefilde kommt. Diese Nacht im Zarengold wird nicht so schnell zu Ende sein. Einmal noch lassen wir uns im Rhythmus der Gleise durch die Landschaft rütteln. Vorbei an Birken, kleinen Dörfern, Bahnübergängen. Lassen uns von dumpfem Dröhnen wecken und wissen, dass wir keinen Zusammenstoß hatten, sondern nur eine neue Lok bekommen haben. Am Morgen werden wir in Russlands Hauptstadt ankommen. Wir - mit Zug - in Moskau. Ein Abenteuer ist zu Ende. Text: Nicole Prestle |
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