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Zugreise Glacier Express

Wo es immer Aufwärts geht

Mit dem Glacier Express durch die Schweiz

Es gibt fraglos viele geniale Schweizer. Wenn man spontan einen nennen sollte, dann würde ich den Mann zitieren, der den Werbespruch für den Glacier Express in die Welt gesetzt hat: "der langsamste Schnellzug der Welt". Natürlich ist das ziemlich frech gelogen, denn dass dieser Zug kein Schnellzug ist, sieht selbst einer, der nie eine elektrische Eisenbahn sein Eigen nannte.
Keiner wird diese Schweizer Kleinbahn für ein Mitglied der Rheingold-, TGV-, Orient-Express-, Blue-Train-Liga halten; mit den schnellen und luxuriösen Express-Zügen dieser Welt hat er nichts zu tun. Und doch hat dieser Werbespruch ihn weltberühmt gemacht!
Als ich um neun Uhr in St.Moritz auf die Uhr schaue, da schlägt zwar keine Bahnhofsuhr, da knallen Türen. Mit der Pünktlichkeit einer guten Schweizer Rolex setzt sich der Glacier Express in Bewegung und beschleunigt gleich so temperamentvoll, dass ich an seiner angeblich superlativischen Langsamkeit ein bisschen irre werde. Freilich geht es ja erst mal mächtig bergab, und da kann natürlich auch ein kleiner Zug groß auftrumpfen. Von St.Moritz (1856 Meter hoch) bis Bergün (1376 Meter) verliert der Glacier Express in fünfzig Minuten fast fünfhundert Meter an Höhe, da schwingen sich die Wagen geradezu übermütig von Schienenstoß zu Schienenstoß und täuschen vor, sie gehörten tatsächlich zu einem Schnellzug.

In den kleinen alten Waggons gibt es keine Abteile, sondern Vis-à-Vis-Bänkchen wie aus der Zeit, in der es noch eine Holzklasse gab. Mein Wagen im Glacierexpress ist fast komplett besetzt. Mir gegenüber hat ein altes Schweizer Ehepaar Platz genommen, eines von jener verwittert und zähledernen unverwüstlichen Art, wie ich sie sonst nur von knochigen Uralt-Engländerinnen kenne; es unterhält sich scheu und flüsternd in den kehligen Gaumenlauten der Gebirgler und guckt nach jedem unverständlichen Gedankenaustausch entschuldigend in die Runde - daher ist also wohl wenig Unterhaltung zu erwarten.

Meine Sitznachbarin entpuppt sich als eine sehr attraktive, aber auch sehr sehbehinderte junge Italienerin, paradoxerweise (oder deswegen?) mit einer riesigen Kameraausrüstung behängt, an der sie von jetzt an die nächsten acht Stunden ständig fingert, ohne doch jemals eine Aufnahme auszulösen. Auf meine sporadischen Konservationsversuche antwortet sie mit einem lang gezogenen italienischen Wehlaut und guckt höflich fragend weit an mir vorbei.

Der Glacier Express hat bereits seinen ersten Stopp (in Celerina) hinter sich, als ich deutsche Laute vernehme. Ein älteres deutsches Paar hat es sich auf den Plätzen jenseits des Ganges bequem gemacht. Beide machen einen nörgelig-leidenden Eindruck: "Die Fenster könnten sie auch mal wieder putzen", reklamiert er als Erstes, obwohl die nun wirklich untadelig glänzen. Sie hantiert mit Plaids und Decken, obwohl der Zug gut geheizt ist. Offenbar hat sie das Gefühl, sich frühzeitig gegen eisige Gletscherhöhen wappnen zu müssen.

Es dauert nicht lange, bis sich das original Schweizer Alpengefühl einstellt: von rechts blicken ein paar der durch Postkarten vertrauten, wie mit Puderzucker überstäubten Gipfel herüber. Nach meiner Karte könnte der eine gut der Piz Muragl (3157 Meter), der andere daneben der Piz Vadrett (3199 Meter) sein, vielleicht ist es aber auch umgekehrt. Und von links muhen zwar nicht, wie ich mir das in meinen allerschönsten Klischee-Vorstellungen gedacht hatte, die wohlgenährten Schweizer Rindviecher mit den Glocken um den Hals, aber es glotzen doch wenigstens die glücklichen Kühe vom Typ Bärenmarke herüber.

Auf meiner kleinen Besichtigungstour durch den Glacier Express turne ich über den altmodisch scheppernden Übergang in den nächsten Waggon. Dort steht eine ältere, doch beschwingte Reisegruppe aus Ludwigshafen, schwer gerüstet mit optischem Gerät.
Ihr Reiseleiter sitzt am Wagenende neben der Toilette auf zwei Koffern und liest ihnen von vielen losen Blättern das übliche "Jetzt sehen Sie links" und "Jetzt sehen Sie rechts" ins Mikrofon. Ich bewundere, wie folgsam die Gruppe von der einen auf die andere Seite schwappt; hier herrscht jedenfalls eine sehr viel animierte Stimmung als in meinem Waggon. Und ganz beiläufig lerne ich auch: "Unsere Strecke führt uns über nicht weniger als 291 Brücken und Viadukten durch 91 Tunnels, und wir werden dafür sieben Stunden und 48 Minuten brauchen".

In Reichenau-Tamis wird der Speisewagen angekoppelt, doch ich habe mich zu früh gefreut.
Die Ludwigshafener Gruppe hat in Windeseile alle Plätze belegt. "Haben Sie denn auch reserviert?", fragt mich der weißbejackte Maître streng, findet dann zwar meinen Namen, doch ich bin erst für die zweite Sitzung eingeteilt. Die findet schon in rund einer dreiviertel Stunde statt, die fröhlichen Ludwigshafener müssen sich also sputen!

Das holzgetäfelte Zugrestaurant erweist sich dann als klein und gemütlich, die Sitzbänke sind mit so altmodischen Mustern bezogen, in so betagten Farben, dass der bunte Zugprospekt nicht lügt, wenn er das "nostalgisch" nennt. Immerhin, die Tische sind weiß gedeckt, und kaum haben wir Platz genommen, beginnen die rot gewandeten Kellnerinnen aufzutischen.

Ich sitze am Ende des Wagens und offenbar direkt auf der Achse, denn es schlingert hier wie auf einem Nordseekutter bei Windstärke sieben. Die feine und durchaus noch rüstige Schweizer Dame trifft mit dem ersten Suppenlöffel das Kinn, mit dem zweiten die Nase und schüttet sich den dritten gegen die Wange; dann gibt sie auf. Sie hat so viel nicht versäumt. In diese "Kraftbrühe mit Einlage" ist dem Koch wahrscheinlich bei einer besonders ruppigen Schlingerbewegung die ganze Salztüte gefallen, so was kann unter diesen Umständen ja leicht passieren.
Doch schon naht das unvermeidliche "Geschnetzelte Kalbfleisch Züricher Art" in gewaltigen Tiegeln, Berge von Rösti hinterher, die so blass sind, als hätten sie die Sonne, die doch wieder so bilderbuchhaft von einem makellos blauen Himmel scheint, nie gesehen. Die Mädchen legen reichlich nach, nicht das Geschnetzelte zwar, doch von den ungerösteten Rösti. "Sind Sie bedient?", fragen sie bei Abservieren, und endlich kann ich dieser klassischen Höflichkeitsformel der Eidgenossen mal im schweizerischen wie im deutsche Sinne zustimmen: "Ja", sage ich aus vollem Herzen, "Ich bin bedient".

Seit der Glacier Express am 25. Juni 1930 das erste Mal von Zermatt nach St. Moritz fuhr und die 291 Kilometer lange Strecke in elf Stunden bewältigte, hat er sich alle paar Jahre verjüngt und modernisiert, nicht immer zur Begeisterung seiner Liebhaber. Meine Erlebnisse stammen aus der vorletzten Generation des Zuges, die neuste wurde endgültig 2008 in Dienst gestellt.
Jetzt bestehen die Züge aus neuen "Premium Panorama-Wagen", die Fenster sind noch größer, auch die Dachschrägen sind verglast, damit man die Berge hochgucken kann, und außen wurde "Glacier Express" so groß draufgepinselt, als handle es sich um den Zug von Circus Sarrasani. Dafür sehen die neuen Interieurs der Wagen ein bisschen aus wie weiße Operationssäle, die man übermütig knallrot (in der ersten Klasse) oder kornblumenblau (in der zweiten) möbliert hat. Das Mittagessen (drei Gänge und bitte gleich bei der Buchung bezahlen, 30 Euro) wird am Platz serviert; nur noch ein einziger Zug fährt mit dem altmodischen Speisewagen. Doch ein paar klassische Glacier-Express-Spezialitäten blieben zum Glück unverändert.
Noch immer trinkt man den Wein im Zug aus den "Spezialgläsern mit dem schrägen Fuß" (auch als Souvenir zu erwerben und garantiert nie wieder zu benutzen): der schräge Fuß soll die Schräglage der Wagen ausgleichen, "Kommt denn da wirklich mal eine Steigung oder eine Abfahrt, die solch windschief verkantetes Glas erfordert?", frage ich verblüfft den Maître: "Wie bitte? Ach, nein, eine solche Schräglage habe ich noch nie erlebt! Das gibt´s doch gar nicht!"

Was ebenso nicht fehlen darf, das ist die artistische Nummer mit der Grappa. Auch wenn man keinen Schnaps will, der Maître naht, und in dessen Kniegelenke sind offenbar alle Kurven und Kehren der Strecke einprogrammiert. Er hebt die Grappa-Flasche weit über seinen Kopf, und während der Zug kreischend seine Zahnräder auf einem steilen Anstieg in die Mittelschiene schlägt, lässt er von weit oben einen dünnen Strahl in die Gläser plätschern, und kein Tropfen geht verloren.

Das wahrhaft Kulinarische findet, da sind wir uns alle einig, draußen vor den Fenstern statt. Da türmen sich die Felsendome himmelhoch, der Wildbach hüpft von Klippe zu Klippe, es grünt so grün auf satten Matten. Der Hochwald steht so starr und schweigend, als hätte er noch nie was von saurem Regen gehört. Es ist eine Fahrt durch Bilderbücher unserer Kindheit, und ich bedaure, dass ich nicht zeichnen kann wie Tomi Ungerer (wenn der unsere alten Volkslieder illustriert). Links und rechts schnurren begierig die Videokameras, die Digitalkameras klicken und bannen auf Millionen Pixel die Bilder von fröhlichen Landleuten, die so emsig dabei sind, die Felder zu harken und die Wiesen zu polieren (und zwischendurch auch noch freundlich dem Zug zuzuwinken), dass ich den Verdacht habe, sie würden vom Schweizer Tourismusverband bezahlt.

"Guck mal, das ist doch ein Heidi, oder?" flüstert eine junge Mutter ihrer Tochter zu. Ja, auch ich habe das Gefühl, ganz woanders zu sein: In einem bunten Heimatfilm kurz nach der Erfindung von Breitwand und Technicolor. Jeden Augenblick erwarte ich, dass irgendwo das große Jodeln anhebt, Florian Silbereisen aus dem Gehölz bricht und sein Trachtenhütchen schwenkt: "Hollodrihöö!". Aber dann pfeift glücklicherweise doch nur unsere Lokomotive - vielleicht hat sie gerade einen übermütigen Jodler von den Geleisen gescheucht...

Text: Horst-Dieter Ebert

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