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Tibet Bahn - Zugreise


Höchste Eisenbahn – Bahnreisen China

Nichts, nichts, nichts. Tagelang geht die Zugreise durch die Steppen Asiens. Kaum vorstellbar, dass sie einst Brücke sein konnten zwischen China und dem Abendland. Und doch war diese Zone einmal reich und voller Leben. Eine epische Reise führt seit kurzem hindurch: eine fast dreiwöchige Bahnfahrt durch Chinas wilden Westen bis hinauf nach Tibet. Sie deckt sich mit zwei Hauptrouten der Seidenstrasse, jenes Netzes alter Handelswege, auf denen Geld und Güter, Sklaven und Soldaten, ja ganze Religionen hin- und herwanderten. Das kasachische Almaty bildet die erste Station dieser 5000 Kilometer langen Zugreise durch den Doppelkontinent. Doch wo endet Europa, wo beginnt Asien? Es gibt keine festen geographischen Grenzen, auch keine klaren kulturellen, nur fortlaufende Übergänge. Es gibt nur Eurasien. Almaty ist selbst das beste Beispiel. Hier leben Russen, Ukrainer und Georgier als Hinterbliebene der Sowjetunion. Hier leben Mongolen, Turkmene und Tadschiken. Und Kasachen natürlich, ihrerseits zusammengewürfelt aus allen Richtungen der Steppe. Hier leben aber auch Zehntausende Koreaner und Wolgadeutsche. Sogar ein deutschsprachiges Theater gibt es. Zahlreiche Obstgärten zeugen vom milden Klima Almatys. Doch zugleich liegen 300 Gletscher in Reichweite. Denn im Südosten ragt eines der höchsten Gebirge der Erde auf, das Tian-schan. Seinetwegen muss der Zug weit nach Norden ausweichen, zurück in die Steppe. Die rustikalen Schlafabteile warten mit Rüschen an den Gardinen auf und mit einer demonstrativ mürrischen Schaffnerin in jedem Waggon. Nach einer ruhigen Nacht führt die Fahrt am Balchaschsee entlang, einer salzigen Pfütze von der 35-fachen Fläche des Bodensees. Am Grenzposten Druschba muss der Zug schließlich umgegleist werden von der russischen Breitspur auf die auch in China gebräuchliche Normalspur. Zusammen mit den Grenzformalitäten zieht sich diese Prozedur viele Stunden hin. Das Warten ist die geistige Entsprechung zur Steppe: gleichförmig und unausweichlich. Die 300 kasachischen Studenten im Zug lesen, plaudern oder spielen Karten. Sie fahren zu ihren Universitäten in Ürümqi oder gar im fernen Xian.
Es dunkelt bereits, als der Zug wieder anrollt. Von der Grenzstation weht eine muntere Fanfare herüber. Hier herrscht Ordnung, signalisiert sie. Hier herrscht China. Es geht hinein in die Provinz Xinjiang, wörtlich „neue Grenze“. Am Morgen zeigt die Landschaft sich dann deutlich grüner. Baumwollpflücker arbeiten sich durch endlose Plantagen. Sie wurden seit den 50er Jahren unter Führung des Militärs angelegt, um mit der Steppe zugleich auch die mehrheitlich in Uiguren bevölkerte Westprovinz zu kolonisieren. Damals stand ein einziges zweistöckiges Gebäude in Ürümqi. Heute hat es zwei Millionen Einwohner und eine vieltürmige Skyline. Auf den Straßen herrscht erneut ein buntes Völkergemisch – inklusive zahlreicher Minderheiten, allen voran die Uiguren, ein Turkvolk. Wer auf dem Basar nicht genau hinhört, könnte sich auf einem Kreuzberger Wochenmarkt glauben. Xinjiang besitzt den Status einer autonomen Provinz, doch Peking diktiert die Spielregeln. Wie alle 55 Minderheiten unter Chinas großem, schweren Dach dürfen auch die Uiguren gerne pittoresk sein, doch partout nicht politisch. Von hier geht es hinaus in die Taklamakan. Lange war dieser Name Inbegriff der Einöde – doch heute schwingt Verheißung darin mit. Denn hier wurde Öl gefunden. Und auch der wahre Herrscher der Wüste, der Wind, liefert Energie: in Asiens größtem Windpark. Die Taklamakan war seit je ein Grenzbereich. Mal gewann der Mensch die Oberhand, mal die Wüste. Für den Triumph des Menschen steht das uralte Bewässerungssystem, das mittels unterirdischer Kanäle die Schmelzwasser des Tianschan in die Felder leitet. Für den Triumph der Wüste wiederum stehen Gaochang und Jiaohe – antike Städte, die der Wind gefressen hat. Die Besucher fahren auf Eselskarren dorthin, quer durch eine sandige Ebene, die so heiß und trocken wie ein Backrohr ist. Wie konnten diese Städte hier erblühen, und woran gingen sie zugrunde? Als um 1900 westliche Archäologen Mittelasien durchstreiften, entdeckten sie ungeahnte Schätze. Die Wüstenbibliotheken von Turfan und Dunhuang etwa bargen Zehntausende von Texten in zahllosen Sprachen. Selbst ausgestorbene Idiome wie Tocharisch erstanden dadurch wieder auf. Die dazugehörigen Mumien entpuppten sich als blond und blauäugig...
Eine Ahnung von diesem multikulturellen Kosmos vermitteln auch die Grotten von Bezeklik. In dieser Schlucht reihen sich 60 Felsnischen aneinander wie die Fenster eines Adventskalenders. Vor 2000 Jahren breiteten sich diese Höhlentempel, aus Indien kommend, entlang der Handelswege aus, bis in die Mongolei und nach Korea. Kaum zu glauben, dass dieser riesige, schwer zu durchdringende Kontinent einst eine einheitliche Busshistische Kultur besaß. Die nächste Station liegt tausend Kilometer weiter östlich: Lanzhou am Gelben Fluss. Die westlichste Metropole des eigentlichen China, zwischen kahlen Bergen ins Tal des Gelben Flusses gezwängt, hat etwas vom Charakter einer Frontstadt behalten. Dann schwenkt die Route nach Südwesten. Im Kloster Kumbum, am Nordrand des tibetischen Hochlands, leben noch 350 Mönche. Vor der Kulturrevolution waren es zehnmal so viele – eine ganze geistliche Garnison. Am Bahnhof des nahen Xining mischen sich die Reisenden dann abermals zu einer großchinesischen Völkerschau: muslimische Patriarchen mit zauseligen Bärten warten Seite an Seite mit eleganten Chinesinnen in klassischen, schmal geschnittenen Qipao-Kleidern mit hoch geschlossenem Kragen. Und Wanderarbeiter aus Sichuan sitzen neben tibetischen Yuppies mit Pferdeschwanz und Pelzkragen. Hier beginnt die hochmoderne Tibetbahn - ein High-Tech-Transportmittel, das durch ein Entwicklungsland fährt. Für die 2000 Kilometer durchs Hochland braucht sie etwa einen Tag. Noch vor fünfzig Jahren hätte die Reise drei Monate gedauert. Draußen heroische Reiter oder eine rauchende Jurte. Drinnen Fernseher über jedem Bett und WLAN im ganzen Zug. „4800 Meter“ verkündet die Leuchtanzeige – die Gipfelhöhe des Mont Blanc. Doch es geht noch höher. Am Ende klettert die Anzeige bis auf 5079. Höchste Eisenbahn! Dank der Druck- und Sauerstoffanpassung im Zug macht sich dies physisch kaum bemerkbar, und wegen der Aklimatisierung in Lanzhou und Xining ist Tibets extreme Höhe auch später ganz gut zu bewältigen. Die Bahnlinie hat die Frachtkosten und auch die Flugpreise nach Lhasa mit einem Schlag halbiert. Viele Passagiere sind Tibeter; einige waren in Xining zum ersten Mal außerhalb ihrer Provinz. Der Bahnhof von Lhasa schließlich wirkt moderner als viele Flughäfen, obwohl er den archaischen Stil tibetischer Bergfestungen zitiert.
Hoch über der Stadt thront der Potala-Palast wie eine Gralsburg. Es ist ein Haus ohne Hüter.
Entsprechend stark erscheint der Kontrast zum alten Tibet. Im Herzen von Lhasa umrunden Pilger den Jokhang-Tempel. Demütig werfen sie sich nieder, erheben sich, gehen ein paar Schritte und werfen sich abermals nieder. Hoch über der Stadt thront der Potala-Palast wie eine Gralsburg. Ein Haus ohne Hüter, das heute nur mehr als Symbol verehrt wird. Andere Klöster dagegen erfüllen noch ihre religiöse Funktion, wie eine Rundfahrt durchs weite Tal von Lhasa zeigt. Üppig ausstaffiert, zeigen sie sich von einer Opulenz, gegen die selbst bayerischer Barock asketisch wirkt. Gespannte Ruhe bestimmt das Bild. An der Oberfläche scheint wieder Alltag eingekehrt in Tibet, und mehr als die Oberfläche ist bei einem solch kurzen Besuch auch kaum zu erfassen. Gleichwohl gerät die Rundfahrt zu einem letzten Höhepunkt. Vier Tage lang führt sie durch grandiose Panoramen und zu kostbaren Kulturschätzen in nächster Nähe zum Himmel. Der Rundkurs endet in Lhasa, das sich zur Großstadt gemausert hat. Zwei Verkehrsprojekte verstärken die Dynamik: die Tibetbahn und die Öffnung des Nathu-La-Passes, der Indien und China seit je verband. Nun kommen verstärkt Gastarbeiter auch Nepal und Indien nach Tibet, viele davon als Hilfskräfte im Tourismus. Nach Jahrzehnten der Abschottung bringen sie etwas von der einstigen Vielfalt des Himalaja zurück. Das ist die eigentliche Lektion der Seidenstraße: dass der Kontinent ein Kontinuum bildet. Dass seine Völker und Kulturen immer in Verbindung standen, über Steppen, Wüstem und Hochgebirge hinweg. Nicht die Geographie schafft die Barrieren, sondern die Politik. Sie hat es aber auch in der Hand, diese zu überwinden.

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